10. Dezember 2012


Wichtels Adventsgeschichte
zum 10. Dezember


Methylirgendwas

Lars war wieder mal frustriert. Seit zwei Stunden brüllten sich seine Eltern im Wohnzimmer an. Nicht, dass er genau verstanden hätte, worum es ging oder dass ihn das auch nur die Bohne interessiert hätte, denn er kannte es sowieso nicht anders. Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen war eine erste ahnungsvolle Verwunderung über den merkwürdigen Vornamen seiner Mutter gewesen: »Schlampe« hatte der Vater sie damals immer genannt. Ob Mama Schlampe heißt, so wie ich den Namen Lars habe?, war es ihm damals durch den Kopf gegangen.

»Du mieses Flittchen!«, dröhnte es soeben durch die Wand. 
»Schlampe-Flittchen wäre auch ein interessanter Vorname«, sagte Lars zu sich selbst. Für seine acht Jahre hatte er bereits eine erstaunliche Distanz zu seinen Eltern gewonnen und sah sie immer deutlicher als das, was sie waren: ein ewig angetrunkener Loser und eine hysterische Kuh. Nicht dass ihm diese Analyse gefallen hätte: Auch Lars hätte lieber nette Eltern gehabt, so wie andere aus seiner Klasse, die er darum beneidete, dass es bei ihnen daheim so schön normal zuging. Doch man konnte es sich als Kind eben nicht aussuchen. Nebenan splitterte Glas, gefolgt von einem empörten Aufschrei. Die höhere Stimme triumphierte: 
»Geschieht Dir recht, besoffenes Schwein! Jetzt ist die Wodkaflasche pu-huuuutt!«

Missmutig wandte er sich wieder dem flimmernden Bildschirm zu. 
»Peng! Peng! Peeeeng!« – Wie wild kickte er virtuelle Kanonenkugeln auf die soeben hereinbrechenden Killertomaten: »Aus Euch mach ich Ketchup, Ihr miesen Schweine! Peng! Peng! Jaaaaa, getroffen!« – Die Spielrunde war beendet. Den fiesen Tomaten hatte Lars es so richtig gezeigt. Von seinem Erfolg berauscht sprang er auf und hüpfte mit begeistertem Indianergeheul durch das Zimmer. In seiner Freude bemerkte er gar nicht, dass es nebenan plötzlich still geworden war. 

Im nächsten Moment sprang die Kinderzimmertür auf. 
»Was ist denn hier los?«, blökte sein Vater und baute sich drohend vor ihm auf. »Kann man in diesem Hause nicht mal am Sonntag seine Ruhe haben? Was schreist Du denn so, Junge?« Lars duckte sich instinktiv. Er wusste nur zu gut, wozu sein Vater in diesem Zustand fähig war. »Hast Du wieder seine Medis vergessen?«, knurrte der seiner Frau zu, die mit gleichgültiger Miene hinter ihm ins Zimmer getreten war. 
»Kann schon sein«, maulte die Angesprochene und trollte sich, um die Tabletten mit dem unaussprechlichen Namen zu holen. Methylirgendwas, war ja auch egal. Schlimm genug, einen beknackten Sohn zu haben, da musste man sich nicht auch noch irgend so ´nen wissenschaftlichen Schwachsinn merken. Wozu waren schließlich die Ärzte da? Hauptsache, das Zeug half, und das tat es schließlich!

Kurze Zeit später saß Lars auf seinem Bett und starrte vor sich hin. Alles war ihm plötzlich auf wundersame Weise egal. Und so bemerkte er auch das kleine Wichtelmädchen Polli gar nicht, das sich still und leise neben ihn gesetzt hatte, mit seiner winzigen Hand ganz fest seinen kleinen Finger umfasst hielt und ihn mit großen, erschreckten Augen anstarrte ...

Unser Krimitipp zum Thema Medikamentenmissbrauch: »Der hässliche Zwilling: Ein Münsterland-Krimi« von Tuna von Blumenstein




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