3. Dezember 2012


Wichtels Adventsgeschichte
zum 3. Dezember


Von einem der Auszog, das Fürchten zu lernen


Als ich am Wochenende von meinem Streifzug durch unseren Park nach Hause ging, (ich hatte nach übriggebliebenen Bucheckern, Haselnüssen und letzten Kastanien gesucht, die ich in unseren Wichtelkeller einlagern wollte), hatte ich eine seltsame Begegnung.

Schon von Weitem sah ich, dass auf der Parkbank, die neben der schwachen Laterne stand, eine Gestalt saß. Es war bereits ziemlich dunkel und kalt, sodass man eigentlich keinen Menschen mehr hier draußen vermutet hätte. Ich verließ also den Weg und schlich mich von hinten näher bis unter die Bank an ihn heran. Und tatsächlich, da saß ein alter Mann in zusammengesunkener Haltung. Er machte eine ziemlich jämmerliche Figur. Seine Schultern bebten ein wenig, sodass ich sofort vermutete, dass er weinte. Das konnte ich als Weihnachtswichtel nicht einfach so zulassen. Also schlich ich mich bis an seine Schuhspitzen heran. Er schien mir nicht gefährlich zu sein, wie er da so klein und jammernd auf der Bank saß, die Arme auf den Knien verschränkt und das Gesicht in den Armen vergraben. Jetzt konnte ich deutlich sein Schluchzen hören.

„Was ist denn los? Weshalb weinst du?“
Der Mann hielt kurz inne mit seinem Geschluchze, hob den Kopf ein wenig und sah sich suchend um. Dann vergrub er wieder seinen Kopf in seinen Armen und gab sich seinem Kummer hin.
Ich fasste meinen Mut zusammen und zupfte an seinem Jeanshosenbein.
„He, hier unten bin ich. Was ist los? Kann ich dir helfen?“

Wieder verstummte das Schluchzen. Der alte Mann hob müde den Kopf und ich konnte seine rotverquollenen Augen in seinem hageren, faltendurchfurchtem Gesicht erkennen.
„Meine Güte, wie lange heulst du schon? Du siehst ja aus, wie 'ne Wasserleiche!“

Der Mann beugte sich seitlich zu mir herunter und starrte mich mit großen Augen an. Wenigstens vergaß er vor Verwunderung, weiter zu heulen.
„Was bist du denn?“, fragte er mich.
„Na, das sieht man doch wohl! Ich bin natürlich ein Weihnachtswichtel. Jetzt sag endlich, weshalb du hier in der Kälte sitzt und Rotz und Wasser heulst!“
„Ach, was versteht denn ein Wichtel schon von meinem Kummer“, sagte der Mann und schüttelte den Kopf.
„'ne ganze Menge mein Lieber. Außerdem habe ich gerade ein wenig nachgedacht und in meiner Hirndatei recherchiert. Und siehe da, ich weiß jetzt, wer du bist“, teilte ich ihm triumphierend mit.

„Ach ja, das würde mich sehr wundern.“
„Du bist doch der Totengräber David! Dich kennt doch jedes Kind!“, lachte ich laut und schlug ihm kumpelhaft auf sein Schienbein.
„Zapperlott, du hast recht. Wenn du so schlau bist, dann weißt du sicher auch den Grund, weshalb ich hier sitze und weine?“
„Nein, den weiß ich nicht, wohl aber, dass du bekannt dafür bist, dass andere Menschen deinetwegen 'ne Menge Tränen vergossen haben, weil du ein alter mürrischer, hinterhältiger Stinkstiefel bist“, antwortete ich ihm unverblümt. „Hat es jetzt endlich einmal dich getroffen?“
Der alte Totengräber starrte mich wieder mit düsterer Mine an.
„Sieht so aus“, murmelte er verlegen, „stell dir vor, ich habe doch meine Geschichten einer Autorin erzählt, damit sie sie aufschreiben soll.“
„Ja. Das hat sie doch auch gemacht, nicht wahr?“
„Ja.“
Und was ist daran jetzt zum Heulen?
„An den Geschichten ist gar nichts zum Heulen, aber stell dir vor, da tauchten plötzlich Rudel von Hyänen auf, die tatsächlich überall erzählten, dass das Buch mit meinen Lebensgeschichten lauter leere und schiefe Seiten enthält! Und dass ich Lügen erzählen würde, dass meine Geschichten nicht wahr seien und dass sie ganz, ganz mies seien!“

Bei den letzten Worten brach er wieder in Tränen aus.
„Stopp! Hör sofort mit der Heulerei auf! Das kann man ja nicht aushalten! Was bist du denn für eine Memme?“
„Wieso Memme? Was würdest du denn sagen, wenn man dich dermaßen niedermachen würde? Du hast ja keine Ahnung!“
„Da irrst du mein lieber David. Ich habe ganz sicher von euch Menschen mehr Ahnung als du oder irgendein anderer. Weißt du denn nicht, dass diese Leute ganz arme Würstchen sind? Die deine Geschichten eigentlich so gut fanden, dass sie grün vor Neid wurden?“

David klappte den Mund auf und vergaß, ihn wieder zu schließen.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ich kenne natürlich auch diese Sorte Unmensch, Alter. Sie sind gleichzeitig ausgeflogen, um dich in Angst und Schrecken zu versetzen. So etwas nennt man miese Mitbewerber, ein beliebtes Spiel in der heutigen Zeit, wo es nicht mehr üblich ist, durch eigene Leistung aufzufallen, sondern dadurch, dass man schlecht über andere spricht“, ich sah ihn herausfordernd an.
Der Totengräber sagte nichts. Was auch nicht anders zu erwarten war. Aber ich spürte, dass meine Worte ihm einleuchteten.
„Pass auf David, geh nach Hause und leg dich schlafen. Du weißt doch genau, dass das Buch mit deinen Geschichten sich sehr gut verkauft hat und dass all die Lügen der feigen Anonymen bis heute unbewiesen sind. Wie sollten sie sie auch beweisen?“

David stand auf, stieg vorsichtig über mich hinweg, ging ein paar Schritte, wischte sich noch einmal mit dem Ärmel über die feuchten Augen, zog den Inhalt seiner Nase geräuschvoll hoch und murmelte ein mürrisches, kaum hörbares "Danke".

Leute, ich hab ihm hinterhergesehen, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte. Ich wusste, es würde ihm bald besser gehen. Denn bei all seinen Geschichten war ich selbst dabei und lege meine Hand dafür ins Feuer,  dass ein Großteil von dem, was er und seine Bestatterkollegen erlebt haben, tatsächlich so oder ähnlich stattgefunden hat. Kinders, Kinders, wie kann so ein alter Mann sich um solchen jugendlichen Schwachsinn nur so grämen. Bei seiner Lebenserfahrung hätte er es besser wissen müssen ... zumal er ja sein eigenes Leben auch mit fehlendem Heiligenschein gestaltet.




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