7. Dezember 2012

Schöne Winterzeit im Garten Picker

Wichtels Adventsgeschichte
zum 7. Dezember


Wichtelin Polli und das Menschenkind

In einem Wald, im Schutz alter Bäume, liegt das Dorf der Wichtel. Dort lebt mit ihrer Familie auch Polli, ein Wichtelmädchen. Polli ist von Natur aus ein neugieriges Wichtelkind. Und sie ist mutig. Darum wagt sie auch mehr als andere. Sie ist die einzige, die sich nahe an eine Menschensiedlung traut. Ihre Eltern dürfen das natürlich nicht wissen. So schleicht sie sich regelmäßig von zu Hause fort und läuft an den Rand des Waldes. Dort ist ein Feldweg, der zwischen dem Wald und einer Wiese liegt, und zu den Häusern der Menschen führt.

Das an sich ist nichts ungewöhnliches und hätte auch nicht Pollis Interesse geweckt. Wenn da nicht dieses Menschenkind wäre … Polli wusste mittlerweile, dass der Name des Kindes Lars ist und, dass er in eine Menschenschule geht. Seinen Namen hatte sie herausbekommen, weil seine Mutter ihn laut ruft. Überhaupt war diese Menschenmutter eine sehr laute Person. Die Art, wie sie mit Lars umgeht, gefällt Polli überhaupt nicht. »Lars komm rein!«, »Lars, wird’s bald?« Ständig schreit sie ihn an, dass es bis in den Wald schallt. Solche Umgangsformen sind in der Wichtelwelt verpönt. Wichtelmütter kommandieren ihre Kinder nicht herum. Polli hätte sich auch längst von den Menschen und auch von Lars abgewandt. Aber Lars kann zaubern und Polli wollte unbedingt hinter diesen Zauber kommen.

Darum wartet sie auch, versteckt hinter einem Baumstumpf, bis Lars von der Schule nach Hause kommt. Aus ihrem Versteck heraus beobachtet sie ihn, wie er zaubert. Bisher ist sie nicht hinter sein Geheimnis gekommen, aber sie hat dafür viel erfahren über das Leben der Menschenkinder. So lernen die schon früh, schwere Lasten zu tragen. Darum gehen sie auch langsam und mit gebeugtem Kopf einher, einen schweren Tornister auf dem Rücken schleppend. Wichtelkinder müssen das nicht. Die haben ihre Bücher in der Wichtelschule liegen. Die Menschenschule muss auch sehr streng sein, denn Polli hatte Lars noch nie mit einem fröhlichen Gesicht nach Hause gehen sehen.

Polli hatte den Baumstumpf erreicht und sah bereits Lars. Irgendetwas war aber anders als sonst. Das Wichtelkind hielt die Luft an, denn Lars kam direkt auf den Baumstumpf zu, zog den Tornister von seinem Rücken und warf ihn in Pollis Richtung, die sich nur mit einem Sprung zur Seite retten konnte. Dabei fiel sie auf den Rücken.

»Aua, kannst du nicht aufpassen, du dummer Mensch!« Im selben Moment erschrak sie, denn Wichtelkinder dürfen sich Menschen nicht zu erkennen geben. Und das aus gutem Grund, denn unvermittelt hatte Polli das Gesicht von Lars über sich, der sie mit großen Augen ansah. In diesem Moment bekam sie dann doch etwas Angst.

»Was bist Du denn?«
Polli überlegte einen Moment, nahm dann ihren Mut zusammen, ändern konnte sie jetzt eh nichts mehr an der Situation. Ein Menschenkind hatte sie entdeckt, es gab Sinn keine Ängstlichkeit zu zeigen.
»Ich bin ein Wichtelmädchen und mein Name ist Polli! Und du bist der Lars!«

»Woher weißt du das?« Lars schien ehrlich überrascht zu sein.
»Das sage ich dir, wenn du mich aufstehen lässt. Vielleicht setzt du dich auf den Baumstumpf, dann können wir uns unterhalten.«

Lars gehorchte und so stand Polli auf und stellte sich vor den sitzenden Lars.
»Jetzt ist mein Kleidchen schmutzig geworden!« Polli zupfte Äste und Blattwerk von ihren Ärmelchen.
»Bekommst du jetzt Ärger deswegen?«
Lars wirkte betroffen.
»Nein, ich darf mich schmutzig machen. Aber ich möchte es nicht. Ist auch nicht schlimm ...«
Ein Schrillen zerriss die Stille. Da war er wieder. Der Schachtelzauber, den Lars beherrschte und hinter dessen Geheimnis Polli unbedingt kommen wollte. Gebannt betrachtete sie das Menschenkind. Lars griff in seine Hosentasche, verdrehte dabei seine Augen, als wäre es ihm lästig. Er holte eine kleine Schachtel heraus, drückte dabei mit dem Finger auf die Fläche, führte die Hand mit der Schachtel an sein Ohr und raunzte ein ›Ja!‹

Polli starrte fasziniert auf Lars und hörte tatsächlich aus der Schachtel die Stimme der Mutter.
»Das Essen ist fertig!«
»Ja, ich bin gleich da!«
»Hast du Mathe zurück?«
»Ja«
»Und?«
»Ne fünf.« Seine Stimme wurde immer leiser, dicke Tränen liefen Lars über die Wange. In diesem Moment vergaß Polli ihr Interesse an dem Schachtelzauber.
»Komm du nach Hause, Männeken. Heute wirst du nur das kleine Einmaleins üben! Und eine Woche Fernsehverbot, verstanden?«
»Ja.«
Die Schachtel verschwand in der Tasche. Es kam auch keine Musik aus der Schachtel wie sonst. Polli verstand die Menschen nicht. Sie konnte Stimmen und Musik aus kleinen Schachteln zaubern, aber das Einmaleins mussten sie üben. Polli befand, dass Lars viel zu alt war, um das zu lernen.

»Ich muss nach Hause.«
Lars bückte sich nach seiner Schultasche.
»Du kannst das Einmaleins nicht? Das musst du mir erklären! Aber putze dir erst die Nase, du hast Schnodder hängen!«
Jetzt musste Lars leise lachen. Er schnäuzte sich die Nase, wischte sich die Tränen weg und steckte das Taschentuch wieder ein.

»Na ja, ich hätte vor der Klassenarbeit üben müssen.« Seine Antwort kam kleinlaut.

»Wir Wichtelkinder lernen das kleine Einmaleins bevor wir in die Wichtelschule gehen. Unsere Mütter lesen uns aus einem Buch vor. Da sind Reime und Sprüche aufgeschrieben. So lernen wir das ganz einfach und haben keine Probleme damit. Hat das deine Mutter nicht bei dir gemacht? Dir vorgelesen?«
Lars schüttelte traurig den Kopf. Er sah das Wichtelmädchen an.
»Eine Tante hatte mir mal ein Buch geschenkt, das ist lange her, da war ich noch im Kindergarten. Da waren auch Einmaleinsgedichte drin. Sie hatte meiner Mutter gesagt, dass die mir daraus vorlesen soll. Dann würde ich das Einmaleins mühelos lernen. Aber meine Mutter hat das nie gemacht. Das Buch muss ich aber noch irgendwo haben.«

Polli dachte einen Augenblick nach.
»Weißt du was, Lars? Such doch das Buch hervor. Jetzt kannst du selbst darin lesen.«
»Sehe ich dich morgen wieder?«
Polli überlegte einen Moment. Dann nickte sie, ihr fiel die Schachtel wieder ein und der Zauber aus der Schachtel, hinter dessen Geheimnis sie ja kommen wollte.

Als Lars das häusliche Donnerwetter seiner Mutter und auch das Mittagessen hinter sich gebracht hatte, ging er in sein Zimmer. In der hintersten Ecke einer seiner Spielzeugkisten fand er das Buch wieder, das ihm die Tante vor langer Zeit geschenkt hatte. Er setzte sich auf sein Bett und las sich selber vor: »Einmaleins Walpurgisnacht!: Rechnen ist (k)eine Hexerei «



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